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"Es war einmal ..." oder "Wie Märchen wahr werden"

Text: Jens Schubbe

Es war einmal ein reicher Bankier. Sein Handeln war nicht nur auf die Vermehrung des Geldes gerichtet, sondern auch auf die Förderung der Künste und der Künstler. Er traf eines Tages auf ein junges Mädchen, das von Kindesbeinen an die Kunst beherrschte, Silhouetten zu schneiden und zudem besessen war von der Liebe für das Theater, für Märchen und für Filme. Ein Traum dieses Mädchens war es, jene Silhouetten, denen sie in einem kleinen Schattentheater Leben einhauchen konnte, auf einer großen Leinwand in Bewegung zu sehen. Der Bankier erfuhr von ihrem Wunsch und erfüllte ihn: Er stellte das Geld – und es war nicht wenig – zur Verfügung, das benötigt wurde, und so konnten das junge Mädchen und seine Freunde in der Abgeschiedenheit eines Hauses am See im Laufe von drei Jahren aus Hunderttausenden von Einzelaufnahmen einen Film herstellen. Die Geschichtsschreiber sollten später vermerken, dass dieser Film der erste abendfüllende Animationsfilm der Filmgeschichte sei. Wenn man genau hinsieht, wird man die Züge des Bankiers in jenen des Prinzen Achmed wiedererkennen, von dessen Abenteuern der Film erzählt.

Die Abenteuer des Prinzen Achmed

Zugetragen hat sich dieses Märchen tatsächlich im Berlin der frühen zwanziger Jahre. Lotte Reiniger, 1899 geborener Spross einer bürgerlich-liberalen Berliner Familie, war jenes theater- und märchenvernarrte Mädchen, das schon als Vierzehnjährige ihre Mitschüler mit Aufführungen von Shakespeare-Dramen in einem eigens konstruierten Schattentheater begeisterte. 1916/17 ging sie auf die Max-Reinhardt-Schauspielschule und kam als Mitglied der Statisterie am Deutschen Theater mit den großen Mimen ihrer Zeit in Kontakt, die sie in Scherenschnitten porträtierte. So wurde auch Paul Wegener auf sie aufmerksam. Als er den"Rattenfänger von Hameln" drehte, war sie bereits Mitglied des Filmteams und produzierte Silhouetten für die Zwischentitel. Für den Film erstellte Trickaufnahmen vermittelten ihr eine Idee, wie man die Kunst des Scherenschnittes, des Schattentheaters und des Films zu etwas Neuem verbinden könnte. Auf Vermittlung von Paul Wegener lernte Lotte Reiniger 1919 die Gründungsmitglieder des Berliner Instituts für Kulturforschung, Hans Cürlis und Carl Koch, kennen. ... Über das Institut für Kulturforschung machte Lotte Reiniger auch die Bekanntschaft des Bankiers Louis Hagen. Der lud sie und Carl Koch - beide waren mittlerweile verheiratet - ein, die Ausbildung seiner Kinder als Privatlehrer zu übernehmen. Hagen war es auch, der Lotte Reiniger anregte, einen großen abendfüllenden Animationsfilm zu produzieren und sagte zu, dieses Vorhaben finanziell zu tragen. So entstand in einem auf dem Potsdamer Grundstück der Familie Hagen eingerichteten Studio zwischen 1923 und 1926 "Die Abenteuer des Prinzen Achmed". Lotte Reiniger war der kreative Kopf des illustren Teams.

Sie erdachte sich die Geschichte, zeichnete zunächst die Figuren, entwarf die Szenerien. Sodann wurden Figuren, Hintergründe und Landschaften hergestellt: die Figuren aus schwarzem Karton (bzw. einer Mischung aus Pappe und gewalztem Blei), die Hintergründe aus Transparentpapier. Beides wurde auf einem von unten beleuchteten Tricktisch positioniert, über dem sich die fest installierte Kamera befand. Die Figuren wurden nunmehr von Hand Aufnahme für Aufnahme (für eine Sekunde Film werden 24 Aufnahmen benötigt) bewegt und so aus (die Angaben schwanken) 250000 bis 300000 Einzelaufnahmen, von denen 96000 letztendlich verwendet wurden, der Film hergestellt. Carl Koch überwachte die Technik und die Organisation, der Filmpionier Walther Ruttmann, der wenig später mit "Berlin. Die Symphonie der Großstadt" einen sensationellen Erfolg landete, zeichnete für die Gestaltung der Hintergründe und gewisser "special effects" verantwortlich, ebenso wie Berthold Bartosch, der beispielsweise die Wellenbewegungen des Seesturms imaginierte.

Mitglied des Teams war außerdem Wolfgang Zeller. Lotte Reiniger hatte den Musiker an der Volksbühne kennengelernt, wo sie für das Schauspiel "Herr Vielgeschrei" das Bühnenbild entwarf. Zeller war dort seit 1927 Leiter der Bühnenmusik. Lotte Reiniger schätzte seine Arbeit und lud ihn ein, die Filmmusik zum "Prinzen Achmed" zu komponieren. Zum ersten Mal wandte sich Zeller der Komposition für einen Film zu und die Musik zum "Prinzen Achmed" entstand unter idealen Voraussetzungen: frei von zeitlichem Druck und in enger Zusammenarbeit mit dem Filmteam. Die Musik wurde nicht etwa den fertigen Szenen einfach hinzugefügt, sondern teilweise wurde der Film auf die schon vorhandene Musik hin entworfen, um möglichst große Synchronität zu erzielen. Musik und Film verschmolzen auf diese Weise zu einem Gesamtkunstwerk, wie wohl kaum je zuvor.

Jens Schubbe

(zit. aus: Programmheft zur Film & Musik-Aufführung 2008 im Konzerthaus Berlin)